Hamburgs Volksschulwesen
Hamburg
hatte 1870 als letztes Land in Deutschland das Volksschulwesen begründet. Die
Volkschullehrer stammten überwiegend aus der sozial aufstrebenden
Arbeiterschaft, wurden in staatlich beaufsichtigten Lehrerseminaren ausgebildet
und organisierten sich in der 1805 von Johann Daniel Curio ins Leben gerufenen
Gesellschaft der Freunde des Vaterländischen Schul- und Erziehungswesens. Die Lehrerschaft der
Volksschulen bemühte sich von vornherein, aus ihr zu machen, was irgend möglich
war. Als das Volksschulwesen gegründet wurde, lebte im Bürgertum noch eine
kräftige liberale Überlieferung. Es waren die letzten Nachkommen der
Achtundvierziger, in denen noch der Geist des »roten Wander« und Diesterwegs
lebte. Von Anfang an steckte sich der Lehrplan hohe Ziele und die Bildungsziele
der Volksschule wurden von der Oberschulbehörde so hoch angesetzt, »daß
diejenigen Schüler, die ihren Kurs durchgemacht haben, zu den Gebildeten
zählen«. Das Fächerangebot, mit dem die Volksschule 1870 ausgestattet wurde, war
breit und offenbarte ein weites Verständnis von Volksbildung. Neben Fächern wie
Religion, Lesen, Schreiben, Rechnen, Gesang, Zeichnen und Turnen finden sich
Geometrie und Algebra, Geographie, Geschichte, Naturgeschichte (= Biologie),
Physik und Chemie. Schon 1870 wurde vom fünften Schuljahr an für Jungen der
Pflichtunterricht in der englischen Sprache mit vier Wochenstunden festgelegt
und Französisch sollte, »soweit es die Verhältnisse gestatten«, unterrichtet
werden. Darum hatte Hamburg auch nie eine Mittelschule nötig, wie sie in den
meisten anderen deutschen Ländern bestand. Die Ausrüstung der Volksschule war
allerdings dürftig. Die Schulgebäude waren finstere Kasten, hatten nicht
genügend Räume und überfüllte Klassen. Fünfzig und mehr Schüler waren die Regel.
Hamburgs Einwohnerzahl wuchs schneller als die Zahl seiner Schulbauten. Es
fehlte an Zeichensälen, an Räumen für den Gesangunterricht und die
naturwissenschaftlichen Fächer. Wenn trotz dieser Mängel Hervorragendes
geleistet wurde, so war das kein Verdienst der Behörde und des Senats, sondern
ganz allein der Lehrerschaft, die ihre Arbeit mit beispiellosem Idealismus tat.
Bestimmt wurde das hohe Bildungsangebot der
Schule natürlich auch von den ökonomischen Erfordernissen der Hansestadt. Vor
allem für die Aufnahme des Englischunterrichts an der Volksschule - in anderen
Ländern des Reiches wird dies durchweg erst nach dem Zweiten Weltkrieg
nachgeholt - sind die ökonomischen Interessen leicht nachweisbar. 1870 machte
die Ausfuhr nach Großbritannien und den USA mehr als sechzig Prozent des Gesamtaufkommens im
Hamburger Hafen aus. Es gab kaum einen Betrieb im Hafen, der nicht mit
englischsprachigen Ländern in gewerblichem Kontakt stand. Das hohe
Bildungsniveau der Hamburger Volksschule kam damit auch den Schülern dieser
Schulform zugute, denn hier in Hamburg konnte etwa ein Drittel der
Volksschulabgänger Berufe ergreifen, die Volksschülern andernorts verwehrt
waren.
Reformpädagogik
im Kaiserreich
B ereits in den 1880er Jahren entwickelten sich in der Hamburger
Volksschullehrerschaft Bestrebungen zur Reform von Schule und Unterricht.
Ausgang war eine Kritik, vorgetragen in der Pädagogischen Reform, dem
Vorläufer der Hamburger Lehrerzeitung, am »geistlosen Mechanismus«, an
der »eigensinnigen Uniformierung und Dressur« und der Einseitigkeit
»intellektueller Bildung« der herkömmlichen Schule. Diese Kritik mündete in den
folgenden Jahren und Jahrzehnten in die verschiedenen u. a. von Alfred Lichtwark,
dem Direktor der Hamburger Kunsthalle, initiierten Strömungen der
Kunsterziehungsbewegung ein. Die Reformpädagogen forderten eine neue
Kunsterziehung, die das Kind als Künstler begreift, sich abwendet von der
Mechanik des technischen Zeichenunterrichts und das freie Zeichnen fördert. Die
Kunsterziehung sollte die Schüler zum »Kunstgenuss« befähigen und die meist
finsteren Schulklassen wollte man künstlerisch ausgestalten. Die Reformer um die
Jugendschriftenwarte forderten einen neuen Aufsatz- und
Literaturunterricht. Den Kindern sollte ästhetisch wertvolle Literatur
vermittelt und die Lektüre von Ganzschriften im Sinne einer Erziehung des
ästhetischen Erlebnisses sowie Theateraufführungen und der freie, am
literarischen Vorbild orientierte Aufsatz gefördert werden. In der
Musikerziehung wollten die Reformpädagogen das Volkslied wieder beleben, den
einstimmigen Gesang fördern, mit Klavierbegleitung den Unterricht gestalten und
die Ausstattung der Schulen mit Musikräumen vorantreiben. Eine neue
Leibeserziehung sollte den Unterricht von den kasernenmäßig betriebenen Frei-
und Geräteübungen befreien und freie Gymnastik, Spiel, volkstümliche Übungen und
Schwimmunterricht einführen.
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Stand: 2005
Klaus Gottsleben
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